Das vierte Gebot

DU SOLLST DEINEN VATER UND DEINE MUTTER EHREN.

Der Generationskonflikt zieht sich als Thema durch viele Werke der Weltliteratur: Entfremdung von den Eltern, Zwist und Hader in der Familie, Respektverlangen und Freiheitswille, Trennung und Aussöhnung sind zentrale Momente in Romanen, Theaterstücken und Erzählungen. Nur selten wird dabei das Vierte Gebot als Kontrapunkt erwähnt, dennoch bildet es in vielen literarischen Zeugnissen eine untergründige Bezugsgröße, ohne die sich das Drama von Anpassung und Rebellion nicht hinreichend entfalten könnte. Aber wie ist das heute in Zeiten von Patchwork-Familien, digitalen Freundschaften, organisierter Lebenshilfe oder »Elternschaft als Projekt«? Für das DEKALOG-Projekt suchen zeitgenössische Autoren eigene Zugänge zu den biblischen Geboten und kommen zu überraschenden Antworten.

18. September 2014 um 19 Uhr

»Vater und Mutter, schöne Worte – Mutter und Vater, schöne Worte«

Es lasen: Dr. Ulrike Draesner | Irina Liebmann

Moderation: Prof. Dr. Michael Bongardt

Auszug aus Das innere Band von Ulrike Draesner

Des Öfteren in letzter Zeit höre ich mich zu meiner achtjährigen Tochter sagen: sprich nicht in diesem Ton mit mir. Ich bin kein Kind aus deiner Klasse. Ich bin deine Mutter.?Trotzig sieht sie mich an. Natürlich versteht sie, was ich sage. Doch der Abstand zwischen Erwachsenen und Jugendlichen, zwischen Eltern und Nachkommen, wird ihr sehr viel weniger vorgelebt als mir als Kind. Auch mit der Ehre ist es so eine Sache. Allemal im Deutschen. Ehre im Kampf, als Soldat. Tausendfach missbraucht, ausgetrieben – verloren. Die Schwierigkeiten mit der Vokabel zeigen die Schwierigkeiten des inneren Verhältnisses an. Ehre, der Zentralbegriff des Deutschtums des 19. Jahrhunderts; Ehre, dieser Zentralbegriff der Schlachtfelder von 1914 bis 1918 und 1939 bis 1945. Den Vater ehren, den Führer, das Vaterland – wie nah das heranklingt an das Vierte Gebot. Ehren und sterben, ehren – den anderen und/oder den Staat über sich stellen, heroisch untergehen, Ehre und das Hehre, verheert. 

Manche Schäden sind »unwiedergutbar«, wie es in meinem Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt heißt.

Mit ehren als Verb kommen wir nicht nennenswert besser zurecht als mit dem Substantiv. Sicherheitshalber ersetzen wir es, was die Eltern angeht, durch ›respektieren‹. 

Lassen Sie uns bei ehren bleiben. Vater und Mutter zu ehren muss etwas anderes sein als sich zu unterwerfen und/oder sich abzuwerten, um im Gegenzug den anderen aufzuwerten. Das mag heute selbstverständlich scheinen. Respekt impliziert Distanz. Man sieht auf den anderen hin, beachtet ihn. Auch ein Moment »Achtung« schwingt darin, im doppelten Sinn des Wortes: Acht haben und in Achtsamkeit sein. Respekt: ein Abstand, der beiden Seiten guttut, der leben lässt und Umgang reguliert. Sehr empfehlenswert im Verhältnis zu Fremden und Fremdem. Zu jedem anderen. Zu Lebewesen.

Ehren hingegen meint all dies – und gibt Wärme hinzu. Jemanden zu ehren impliziert Zugewandtheit, sogar Dankbarkeit. Die Anerkennung einer Lebensleistung: »Was du tust, was du tatest, ist gut.« (Es hat zu mir geführt.)
 

Auszug aus Ein Zug in der Nacht, im November von Irina Liebmann

Als Henry Miller nach zehn Jahren Abwesenheit zu seinen Eltern zurückkehrte, war er voller Furcht. Das Beste lag hinter ihm, schrieb er später, das schöne Europa, das schöne Paris. Man schrieb das Jahr 1940, er floh vor dem Krieg, der in Europa gerade begonnen hatte. Man kann sich unseren Kontinent damals so vorstellen wie ein Blatt Löschpapier, durch das an einigen Stellen schon Blutflecken dringen, da wollte Miller nach Hause. Er fuhr nach New York. Mit dem Schiff fuhr man damals. Drei Wochen, dann war er schon nahe herangerückt an die Stadt und das Haus seiner Eltern. Er ging an Land , nahm den Zug, fuhr vorbei an New York. Fuhr weiter, noch weiter, fuhr zehn Tage in der Gegend herum, dann ging es nicht anders, sie warteten schon. Sie wussten wann er an Land gegangen war, er hatte ja immer geschrieben. Auch in den vergangenen Jahren immer geschrieben, braver Sohn. Sie sollten sich keine Sorgen machen. Geschrieben hatte er. Telefonieren war noch nicht allgemein üblich bei solcher Entfernung. Die Post also sagte ihn an, sie verriet ihn, er musste nun wirklich erscheinen am Ort seines Schreckens, der Alptraum der Küche, das Wohnzimmer, dunkel, altes Buffet , schweres Holz, die Gläser wahrscheinlich noch alle vorhanden. Was nun genau ihm der Ekel war, Ende der Welt, genau hat er das nicht ausgeführt. Aber man weiß es doch. Wie ein Antimagnet handelte er den Menschen gegenüber, denen er sein Leben verdankte, und die er sich niemals hat aussuchen können, genau das, den Jammer, oder sollte man sagen die Jämmerlichkeit, die Armut, die tägliche Sparerei und so weiter, das musste er jetzt wiedersehen, und konnte nicht, fuhr im Bogen, im Kreise herum um den Punkt, von dem er einmal gekommen war, aber dann ging‘s nicht mehr anders, er musste sein Innerstes völlig verdrehen, umstülpen, und schwupp – war da doch noch etwas magnetisch – ein Rest und er stand vor der Tür. Da traten sie heraus: Die Mutter, der Vater, die Schwester. Die Mutter, der Vater, die Schwester – wie sahen sie aus! Liest man Millers Erinnerung an diesen Augenblick der Begegnung wird klar, er hatte mehr an die Armut gedacht, die Wohnung, nicht an Menschen. Vergessene Menschen. Da standen sie. »Faltige Mumien« schrieb er, und dass der Schreck in seinem Gesicht so groß gewesen sein muß, daß der Vater, der alte und kranke Vater, der es niemals geschafft hatte, seiner Familie etwas Besseres bieten zu können als das eben, was sich hinter der Tür verbarg, in diesem Moment einen Schrei ausstieß: »Wie sehen wir aus?!«
»Wie sehen wir aus?!«