Das Erste Gebot

ICH BIN DER HERR, DEIN GOTT. DU SOLLST NICHT ANDERE GÖTTER HABEN NEBEN MIR.

In vielen literarischen Werken wird Bezug genommen auf die Zehn Gebote - sei es auf die Gesetzestafeln als solche (so bei Thomas Mann), sei es gelöst von einem biblischen Handlungsschema auf Einzelmotive wie Habgier, Grausamkeit und Lüsternheit, die das Geschehen dramatisch grundieren. Für das Dekalog-Projekt griffen namhafte zeitgenössische Autoren diese Tradition auf und suchten einen je eigenen Zugang zu den Geboten. 


6. Juni 2013 um 19 Uhr

»Von nun an kein Ebenbild, das die Stimme überlagert, die sich in den Stein einschreibt.« (Erri De Luca, E Disse, Mailand 2012)

Es lasen: Walter Thümler | David Wagner

Moderation: Prof. Dr. Hans-Dieter Zimmermann


Auszug aus Er ist da und will da sein von David Wagner

Totenglocken

Alle Mitarbeiter der Seibu-Gruppe

müssen mindestens eine Nacht im Jahr

am Grab des Patriarchen mit dem goldenen Schneidezahn verbringen und dort

(in einer altjapanischen Begräbnisstätte vor den Toren Tokios)

morgens und abends

die Totenglocke läuten.


Auszug aus Eric und Andere. Stimmen, Szenen, Bilder von Walter Thümler

Ich wecke meine vierjährige Tochter aus dem Mittagsschlaf. Wir wollen mit dem Fahrrad ins Stadtzentrum. Für mich sind die Verkehrsgeräusche Störung. Sie aber freut sich daran wie an etwas Vertrautem. Ein Astronaut, der zur Erde zurückkehrt, muß ähnlich empfinden: Alles hier ist schön. Schön, weil es zeigt, wir sind nicht allein. Alleinsein als nicht von Gleichem umgeben, das wäre die Hölle. Für meine Tochter mögen die Geräusche das sein, was ein russischer Dichter als »die Anwesenheit der Toten« beschrieben hat. Jetzt gehen wir ein bißchen. Aber sie läuft plötzlich weit voraus. »Warte, bleib stehn!« ruf ich besorgt, sie könnte auf die querende Straße laufen. Sie stoppt nach circa 30 Metern und lehnt sich an ein Straßenschild und lacht, das linke Bein schwenkend ...

»Daß die Wahrheit versagen muß«, hatte ich irgendwo gelesen. Dabei mußte ich an jene Stelle in der Bibel denken, die mir der Mieter im elterlichen Haus, Wolfgang Dirks, den ich als Kind häufig besuchte, einmal vorgelesen hat. Eliah ist erschöpft und enttäuscht, nachdem er für Gott gekämpft hat, und sinkt in einer Höhle nieder und will sterben. Die Macht ist mächtig, weil »die Wahrheit versagen muß«, und diese muß versagen, weil wir nicht fähig sind, in ihr zu leben.