Das Neunte Gebot

DU SOLLST NICHT BEGEHREN DEINES NÄCHSTEN HAUS.

Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserm Nächsten nicht mit List  nach seinem Erbe oder Hause trachten und mit einem Schein des Rechts an uns bringen, sondern ihm dasselbe zu behalten förderlich und dienlich sein.

                                                                            Martin Luthers Erklärung zum Neunten Gebot im Kleinen Katechismus

Die Gebote Neun und Zehn sind Begehrensverbote. Sie berühren nicht nur soziale Ungerechtigkeit (»zu wenig« haben, »weniger« haben als der andere), sondern wissen um die prinzipielle Maßlosigkeit und Unabschließbarkeit menschlichen Habenwollens: wir meinen gerade das haben zu müssen, was der andere besitzt, nicht aber was wir wirklich brauchen. Und kaum ist ein Wunsch, eine Sehnsucht erfüllt, geht der Blick schon auf anderes.... Zuweilen geschieht sogar, dass wir für das, was wir selber haben, von anderen beneidet sein wollen. Begehren ist mimetisch – eben darum fesselt es uns und macht uns unfrei.

Die Sozialwissenschaften erklären Begehren als normierte und kulturell regulierte Emotion. Es gibt Neben- und Randbedingungen, wie beispielsweise die soziale Nähe der betroffenen Personen, die erfüllt sein müssen, um es aufkommen zu lassen. Deshalb ist in der biblischen Formulierung der Gebote treffend vom »Nächsten« die Rede.

In der jüdischen ebenso wie der orthodoxen, reformierten und anglikanischen Tradition ist lediglich das Zehnte Gebot dem Begehren gewidmet. Die römisch-katholische und die oben zitierte evangelisch-lutherische Lesart nehmen eine auf Augustinus zurückgehende Differenzierung vor: die lutherische sondert im Neunten Gebot das »Haus« vom restlichen Hab und Gut ab (nach der Formulierung in Ex. 20, 17), die katholische hebt (im Anschluss an Dtn. 5,21) besonders das Begehren nach der »Frau« des Nächsten heraus. Beide sind aber in enger Anbindung an das nachfolgende Zehnte Gebot zu sehen.